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Geheimnis hinter Ziegelmauern 

 


Der Nobelfriedhof von Unter-Döbling sah manche „schöne Leich“

Unvergesslich die Erinnerung an das Geheimnis hinter der ziegelnen Mauer. Ich habe sie nie überklettert, mich nie in den Friedhof hineingestohlen, denn ich hatte Angst. Zuviel hatte mir die Köchin an Abenden, wenn niemand zu Hause war, die Gouvernante im Salon Patience legte, von Friedhöfen und den grässlichen Dingen, die dort passieren, erzählt.

Von den Scheintoten, die man in den Särgen „pumpern“ hört, von der Kusin‘ ihres „G’schwistrakindes“, die einmal aus Versehen in der Leichenkammer eines Friedhofs mit einer aufgebahrten Leiche eingesperrt worden war. Und wie um Mitternacht einer schrecklich an das Tor geklopft, mit schauerlicher, dumpfer Stimme gesagt hatte: „Toter, mach mir auf!“, wie der Tote sich im Sarg aufgerichtet hatte, die Kusin‘ ihn geschwind mit Weihwaser angespritzt hatte und er zurückgefallen war. Und wie die Stimme wieder gesagt hatte: „Toter, mach mir auf!“, und wie die Kusin‘ wieder den Finger in den Weihwasserkessel getaucht, der Tote wieder zurückgesunken war und wie sich das wiederholt hatte, bis es ein Uhr geschlagen.

So hab‘ ich denn viele, viel zu viele Friedhöfe gesehen, nur nicht den alten Döblinger Friedhof, und das Grab des „Walzerkönigs“ erst, als sie aus dem geheimnisvollen Schauer-Hain einen banalen Park gemacht haben, in dem mein Bub in der Sandkiste gespielt hat.

 

Grabsteine auf der Wiese

Zwei kühle, klassizistische Grabsteine mit einem betrübten Todesgott (neben sich die gesenkte Fackel – sie müsste ihm schon längst das Knie verbrannt haben) stehen nebeneinander, und schön schaut einer den andern an, auch der Faltenwurf über der „Aschenurne“ ist bei dem einen rechts, bei dem andern links. Das Höchste an Symmetrie. Die Skelette sind längst – anno 1904 – auf den Zentralfriedhof übertragen worden.

Ganz sonderbar sind diese zwei Grabsteine auf der flachen Wiese, hinter den gestutzten Büschen von heut. Der 38er und der 39er halten gleich daneben. Wagenführer und Schaffner lösen sich ab. „Auf die Nacht“ ist immer ein großer „Bahöll“ von den Besoffenen, die vom Heurigen nach Hause fahren. Das macht aber den Geistern vom Lanner und vom Strauß Vater nichts, denn das sind sie gewohnt. Sie lebten in einer mehr als weinseligen Zeit.

Der alte Döblinger Friedhof, genau genommen liegt er in Unter-Döbling, war ein richtiger Biedermeierfriedhof, er ist erst am Ende der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts entstanden, als die Döblinger Pfarrkirche in der Vormosergasse neu gebaut und dabei der Friedhof, der die dortige alte Kirche umgeben, aufgelassen wurde. Der neue Friedhof, der ursprünglich ein Dorffriedhof war, den man nur mit Brettern einplankte, ist alsbald ein richtiger Nobelfriedhof geworden, und es hat die großartige „Leich“ Joseph Lanners ganz in das Milieu gepasst.

 

Militärisches Leichenbegängnis

Es muss ein herrliches Alt-Wiener Bild gewesen sein, dieses Leichenbegängnis, zu dem 20.000 Wiener zusammengelaufen waren. Josef Lanner ist am Karfreitag des Jahres 1843 gestorben. Anscheinend an einer Typhuserkrankung, was im damaligen Wien nicht selten war. Er ist 42 Jahre geworden.

Das Leichenbegängnis hat um 5 Uhr nachmittags angefangen und war ein ganz militärisches. Das ist seltsam, aber die alten Wiener haben einen militärischen Fimmel besessen. Wer was auf sich hielt, musste beim Bürgermilitär sein. Das waren Freiwilligenregimenter, die auf die Türkenbelagerung von 1683 zurückgingen und ziemlich kostspielig waren. Man musste sich die Uniform selbst anschaffen, sie musste beim ersten Schneider genäht sein, tadellos passen, und die Generaldecharge musste fallen wie ein Schlag, jeder Gewehrgriff klatschen, dass man es zwölf Gassen weit hörte.

Josef Lanner war der Regimentskapellmeister des 2. Bürgerregiments. Johann Strauß Vater der des 1. Bürgerregiments. Man muss gestehen, dass das schon eine erstklassige Besetzung war. Und so eröffnete denn auch eine Kompanie bürgerlicher Grenadiere vom 2. Regiment den Leichenzug, der sich vor dem Trauerhaus, dem kleinen Häuschen Lanners beim Währinger Spitz – vor dem heutigen Kuffnerpark in der Gymnasiumstraße – formierte.

 

Grenadiere gaben Lanner das letzte Geleit

Riesige Bärenmützen aus echtem Bärenfell, an der Seite die große schwarz-gelbe Tschakorose, ragten über den Gesichtern der Grenadiere empor, die schwarz uniformiert waren – mohrengrau hieß die Farbe – und himmelblaue Aufschläge wie die Deutschmeister hatten. Die Frackschöße waren ebenfalls himmelblau besetzt. Paradesoldaten, die sie waren, marschierten diese Schneider, Schuster, Posamentierer, Drechsler, stramm wie die alte Garde Napoleons. Ihnen folgte die prachtvoll mit Gold bestickte „Regimentsbanda“ des 1. Bürgerregiments, das sich dunkelblau mit granatroten Aufschlägen trug. Johann Strauß Vater, Kapellmeister des 1. Regiments, schlug den Takt.

Dann schwankte der hohe Sarg einher, getragen von Grenadieren des 2. Bürgerregiments, Hut, Degen und Uniform Josef Lanners waren auf dem Sargdeckel drapiert. Hinter den Leidtragenden der Familie folgten sämtliche Bürgeroffiziere in Parade, auch die noble bürgerliche Kavallerie fehlte nicht, ganz dunkelblau, mit zinnoberroten Aufschlägen, die riesigen Dragonerhelme alle echt vergoldet, der bürgerlichen Artillerie wehten große Rossschweife von den Tschakos.

Dann kam die verwaiste „Banda“ des 2. Bürgerregiments. Abwechselnd mit der des 1. Bürgerregiments blies sie ununterbrochen durch die Hirschengasse, die Hauptstraße, die Alleegasse zur Kirche und dann zum Friedhof Beethoven. Um sieben Uhr traf der Zug auf dem Friedhof ein, es dämmerte schon, weißgekleidete Mädchen streuten Blumen auf den Sarg, als er in die Tiefe sank.

Viel Geld hat Lanner nicht hinterlassen, er war ein Verbraucher. Musste seine Familie erhalten, der er längst davongelaufen war, und seine „Konkubine“, eine „Fleischhauerische“ aus der Leopoldstadt, lebte auch im Juchhe. Bei ihr ist er gestorben. Und so scheinheilig die Zeit war, die Wiener haben sich darüber nicht aufgeregt.

Dieses Leichenbegängnis ist im gewissen Sinn Ausklang einer Ära. Sein militärischer Charakter psychologisch begründet. Noch herrschten die zweihundert heimlichen Kaiser im Land, die Bürger waren eine „Bagasche“, sie wussten’s und trugen es schwer, aber in der Uniform schwoll ihr ewig gekränktes Selbstgefühl für Stunden an. Sie haben sich gefühlt. Sie, die in Wahrheit bereits den Staat trugen.

In wenigen Jahren sollte ihr Erscheinen in Uniform auf Seite der Unzufriedenen vieles entscheiden. Die Hofkoterie ist 1848 innerlich erst zusammengebrochen, als die bürgerliche Kavallerie mit ihren goldenen Epauletten und goldenen Helmen mit den Zivilisten die Vorzimmer der Hofburg füllte.

 

Epigonenschicksal

Als Johann Strauß 1849 ebenfalls hier zu Grabe getragen wurde, hatten sich Zeiten und Dinge verändert. Es war keine militärische „Leich“, sondern eine zivilistische. Auch er hatte „in Sünde“ gelebt, war seiner Frau durchgegangen. Aber er hatte ein Genie gezeugt.

Lanners Sohn ist jung gestorben. Auch er war „Musikdirektor“, aber in erster Linie ein Dandy. Der eleganteste Reiter von der Hauptallee, oft hat er in kotbespritzten Reithosen dirigiert.

Die jüngere Schwester hat es bei der unausstehlichen Mutter nicht ausgehalten, ist ihr davon, zu Freunden, die sie am Klavier ausbilden ließen, aber mit Siebzehn starb sie. Nur die ältere Tochter, die Kathi Lanner, machte einen einsamen, harten Weg, den der Tänzerin. Sie hatte die ganze zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hindurch einen großen Ruf, aber sie mied Wien. Sie reiste unaufhörlich durch Europa und Amerika, wurde eine der angesehensten Ballettmeisterinnen ihrer Zeit. Als sie um die Jahrhundertwende einem Wiener Journalisten, der an sie Fragen über ihre Eltern gestellt hatte, aus London antwortete, schrieb sie nur mehr in englischer Sprache.

 

Die Tragik der Wiener Genies

Irgendwie liegt Tragik und zutiefst erschütterndes Schicksal über diesen musikalischen Genies, die aus dem Schoß des Wiener Volkes gekommen sind. Aus der Welt der Mühseligen und Beladenen. Die ihre Karriere mit dem Zinnteller begannen, mit dem sie nach jeder Nummer absammeln gingen. Die am Rande der Gesellschaft lebten, nur durch ihr Genie in sie eingedrungen sind, aber das wahre Symbol dieser Gesellschaft wurden, sie künstlerisch in die Unsterblichkeit getragen haben, sie, die als Parias, als ganz kleine Leute geboren sind. Oft nur eine dürftige Bildung besaßen und doch der großartige, glänzende, ewig gültige Ausdruck dieser Stadt, dieser Kultur sind, in der sie fast nur Sorgen, Arbeit und Kummer gekannt haben. Trotz aller Anerkennung und allen Applauses die wahre Befriedigung nur aus dem Gefühl ihrer eigenen Erfüllung erreichen konnten.

 

Autor: Siegfried Weyr

aus dem „Wiener Kurier“, 7. April (keine Jahreszahl angegeben), S. 10.